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Schotterwege, Waldwege und schlechte Straßen stehen heute bei Rennradfans hoch im Kurs. Bis vor kurzem galten solche Strecken vor allem als Härtetest für Mensch und Maschine. Eine neue Generation vielseitiger Rennmaschinen für genau solche Bedingungen stellt dasselbe sportlich-direkte Fahrverhalten auf etwas breitere Reifen und erlaubt es, Asphaltstrecken weit hinter sich zu lassen ohne Tempo rauszunehmen. Diese Bikes erweitern den Einsatzbereich für Rennradfans enorm und können selbst überzeugte Mountainbiker begeistern.
Für viele, ganz verschiedene Fahrertypen, könnten Gravelbikes genau das Richtige sein. Sieht man sich im Sortiment der Radhersteller und Eventkalender um, dann hat der Siegeszug des Gravelbikens schon begonnen. Viele Hersteller haben für die kommende Saison mindestens ein passendes Modell im Angebot. Auf den folgenden Seiten möchten wir euch die Faszination Gravelbiking und die Charakterzüge der neuen Bikes genauer vorstellen.
"Gravel beginnt für uns dort, wo du aufhörst, in Schubladen zu denken - und selbst entscheidest wie, wo oder was du fährst. Was bisher für Viele reines Wunschdenken blieb oder nur als aufwändige Einzelanfertigung möglich war, ist jetzt als Serienbike erhältlich. Wir sind überzeugt, der Gravel-Trend führt zu einem neuen, dauerhaften Segment und gewinnt mehr und mehr begeisterte Anhänger sowohl im Rennrad-, als auch im Mountainbike-Lager."
Stephan Geiß, Brandmanager VOTEC
Das moderne Gravelbike
Was macht ein Gravelbike aus?
Gravelbikes, auch bezeichnet als All-Road Bike, Adventure-Bike oder Disc-Crosser gehören trotz ihren Stärken im Gelände zur Familie der Rennräder. Der klassische Cyclocrosser für kurze Rundkurse ist ein enger Verwandter. Doch kommen weitere technische und sportliche Einflüsse zusammen, um den Rädern einen derart üppigen Einsatzbereich zu verpassen. Großen Einfluss hatten außerdem die Langstrecken- oder Komfort-Rennräder. Und ohne technologische Anleihen vom Mountainbike wie Scheibenbremsen, Tubeless-fähige Reifen oder robuste Antriebe wären Gravelbikes in ihrer modernen Form ebenfalls kaum denkbar. Erst die Mischung führt zu typischen Merkmalen, die für nahezu alle Gravelbike-Vertreter gelten können:
- Eine Rennrad-Sitzposition für sportlich-schnelle Gangart über Asphaltstrecken und unbefestigte Strecken.
- Ein im Vergleich zum Straßen-Rennrädern etwas längeren Radstand, in der Regel Scheibenbremsen und oft minimal profilierte Reifen zwischen 32 und 45 mm Breite.
- Ein im Vergleich zum klassischen Wettkampf-Crosser weniger aggressiver Sitzposition und ein tieferes Tretlager für Sicherheit, Effizienz und Komfort auf längeren Strecken
Die Mischung von modernen Komponenten und feinen Geometrieunterschieden erzeugt tatsächlich eine neue Gattung. Im Detail interpretieren die Hersteller ihre Gravelbike-Modelle mal sportlicher, mal alltagstauglicher, mal dichter am Rennrad- und mal dichter am Gelände-Einsatz. Das mag zunächst verwirren, bietet jedoch den Vorteil, dass man genau das zu seinen Ansprüchen passende Rad finden kann.
Die Varianten
Wer vor allem einen sportlichen Renner für schnelle Runden auf wechselnden Untergründen möchte, sollte auf geringes Gewicht, eine sportliche Sitzposition und einen der neuen 1x11 Antriebe schauen. Idealerweise hat das Rad auch hydraulische Scheibenbremsen. Ein typischer Vertreter ist das VOTEC VRX.
Wer richtig lange Stecken im Sinn hat, möchte viel Komfort und Effizienz, auch nach Stunden. Eine feine Abstufung mit 2x11 Schaltung ist hier die bessere Wahl. Die Sitzposition sollte für den Langstreckeneinsatz sportlich-komfortabel ausfallen. Je nach bevorzugter Streckenwahl ist hier ebenfalls Platz für relativ breite Reifen.
Wer das Gravelbike zum Rennrad-Wintertraining nutzen möchte, sollte darauf achten, dass sich Schutzbleche montieren lassen. Manche Hersteller bereiten ihre Modelle bereits serienmäßig auf die Montage vor. Genug Platz für Schutzbleche in Kombination mit 28 oder 30 Millimeter breiten Reifen ist in der Regel an allen Gravelbikes gegeben.
Wer das Gravelbike eher als sportlichen Tourer für Mehrtagestouren mit Gepäck oder als schnelles Pendler-Rad versteht, möchte Schutzbleche, Gepäckträger und Licht am Rad haben können. Anlöter an Rahmen und Gabel, ein breites Gangspektrum, simple Technik und Platz für breite Reifen samt Blechen sind hier wichtig. Manche Hersteller bieten serienmäßig vollausgestattete Commuting-Varianten an.
Die Ursprünge
Wie viele Radsporttrends hat auch der aktuelle Gravelbike-Trend seine Ursprünge in den USA. Dort entwickelte sich zu Beginn der 2000er Jahre eine überschaubare aber gut vernetzte Langstrecken-Rennradszene, die den Profirennsport - zentrierten Trotts auf abgeschiedenen Nebenrouten zu entkommen versuchte. Das Befahren von Schotterstraßen (Gravel Roads) war dabei eher Notwendigkeit als Wunsch.
Längere Passagen auf den nur minimal befestigten geschotterten Straßen waren im US-amerikanischen Hinterland nahezu unvermeidlich, wollte man sich konsequent auf wenig befahrenen Nebenstraßen halten. Diese führten unmittelbar hinein in beeindruckende Landschaften und ein neues, ebenso faszinierendes Rennraderlebnis. Vom Rennradtempo über unbefestigte Straßen waren die für den Straßensport ausgelegten Räder regelmäßig überfordert. Ständige Optimierungen an wenigen Nischen-Modellen führten Schleife für Schleife zu verlässlicherer Technik, noch anspruchsvolleren Strecken und noch besser Technik.
Heute erlebt die US-Radzene einen wahren Boom an Langstrecken-Gravel-Events, bei denen tausende Starter mehrere hundert Kilometer in Angriff nehmen, die noch vor wenigen Jahren kein Rennrad auch nur zehn Kilometer schadfrei überstanden hätte. Aus den Nischen-Rennrädern einiger weniger ist das moderne Gravelbike geworden, dass das Beste aller Welten in sich zu vereinen scheint.
Gravelbike-Technik
Die technischen Details am Gravelbike
Neben Fahrverhalten, Sitzposition und Platz für dickere Reifen müssen einige Basis-Zutaten am Gravelbike stimmen, um das Potential der Renner voll zur Geltung zu bringen. Hier gilt: Erst die richtige Kombination aus leicht, stabil und komfortabel macht richtig schnell.
- Je leichter das Rad ist, desto spritziger lässt es sich bewegen.
- Gewicht sparen um jeden Preis gilt nicht. Abseits der Straße können Belastungsspitzen größer und unberechenbarer auftreten als beim reinen Straßeneinsatz.
- Beim Komfort geht es nicht darum, den Fahrer in Watte zu packen. Anders als beim gefederten Mountainbike landen Stöße unmittelbar beim Fahrer. Was auf Asphalt für ein wunderbar direktes Fahrgefühl sorgt, kostet auf unebenen Pisten messbar Kraft, die man lieber in den Vortrieb stecken würde.
Rahmen & Gabel
Für den Rahmen kommt in der Regel Aluminium oder Carbon zum Einsatz. Beide Materialien ermöglichen sehr stabile und leichte Rahmen. Carbonrahmen können noch leichter oder stabiler gebaut werden und trotzdem mehr Komfort bieten. Räder mit Aluminiumrahmen sind im Gegenzug deutlich preiswerter. Fast alle Hersteller setzten wegen der Vorteile bei Gewicht, Stabilität und Dämpfung auf eine Gabel aus Carbon. Aus den gleichen Gründen wird an teureren Modellen auch beim Lenker und der Sattelstütze auf Carbon gesetzt.
Scheibenbremsen
Der zweite Schlüsselfaktor für Gravelbikes ist die Scheibenbremse. Die deutlich bessere Bremswirkung und Dosierbarkeit rechtfertigt den Aufwand für Anpassungen an Rahmen und Gabel und sogar das geringe Mehrgewicht der Disc-Stopper vollauf. Bei preiswerteren Gravel-Modellen kommen oft mechanische oder teilmechanische Scheibenbremsen zum Einsatz, welche schon die hohe Bremspower unabhängig von Umweltbedingungen bieten. In Sachen Dosierbarkeit entfalten erst vollhydraulische Systeme das ganze Potential der Disc-Stopper.
Laufräder
Wenn Felgen nicht länger als Bremskörper gebraucht werden, haben Laufrad-Hersteller die Möglichkeit, Felgen in Aluminium und in Carbon leichter und dennoch stabiler zu bauen. Üblicherweise haben Gravelbike-Laufräder zudem eine etwas breitere Felge, damit die Reifen sicher sitzen und im schlauchlos-Betrieb perfekt funktionieren. Steckachsen mit 12 mm Durchmesser statt der traditionellen 5 mm Schnellspanner bringen zusätzliche Stabilität in Chassis und Laufräder, ohne Gewicht zuzulegen.
Reifen
Das markanteste Merkmal der Gravelbikes sind die bis zu 45 mm breiten aber wenig profilierten Reifen. Das wachsende Angebot an breiten und dennoch schnell rollenden Reifen ist ein Schlüsselfaktor für den Erfolg der Gravelbikes. Weit verbreitet ist zudem die Umrüstung auf Tubeless, also den Verzicht auf den Schlauch, um Rolleigenschaften und Pannensicherheit zu erhöhen und den Luftdruck zu reduzieren.
Antrieb
Für den großen Einsatzbereich sollte die Bandbreite an Übersetzungen ebenfalls relativ groß sein. Man findet an Gravelbike-Modellen deshalb Antriebe mit Zweifach-Rennradkurbeln in Kompaktabstufung (50/34) oder Cross-Übersetzungen (46/36) in Kombination mit sehr breit abgestuften Rennradkassetten. Immer beliebter werden außerdem 1x11 Antriebe, die ohne Umwerfer, linken Schalthebel und mit nur einem Kettenblatt auskommen. Sie werden mit extrem breit abgestuften Kassetten mit bis zu 42 Zähnen kombiniert, und bieten in der Hälfte der Gänge (fast) die gleiche Bandbreite, jedoch etwas größere Übersetzungssprünge. Im Gegenzug überzeugen die 1x11 Antriebe durch einfachen Aufbau sowie geringstes Gewicht.
Umrüstungstipps
Mach das eigene Bike Gravel-tauglich
Einem Aero-Renner oder gefedertem MTB wird man kaum etwas Gravelbike-Charakter einhauchen können. Wer aber bereits ein Rennrad mit guter Reifenfreiheit oder einen Cyclocrosser hat, der kann mit kleinen Umrüstungen Langstrecken-Tauglichkeit, Komfort oder Geländepotential merklich steigern.
Breitere, wenig profilierte Reifen
Rennräder bieten häufig Platz für breitere Reifen. 30-40 mm und ein leichtes Profil bringen neben mehr Volumen auch mehr Komfort, Traktion und Sicherheitsreserven. Ein paar Millimeter Unterschied zum klassischen Straßen-Setup klingt nicht viel, machen sich aber deutlich bemerkbar. Für Fahrer, die jederzeit auf und neben der Straße Spaß haben wollen, sind Gravel-Reifen die beste Wahl. Am Cyclocross-Rad empfiehlt sich, die Cross-Reifen mit Stollenprofil gegen einen leicht rollenden Semislick einzutauschen.
Mehr Brandbreite für den Antrieb
Abseits asphaltierter Strecken lauern mitunter steilere Anstiege, die das Tempo drücken und normale Rennradübersetzungen an ihre Grenzen bringen. Um den Antrieb zu optimieren, empfehlen wir Kassetten mit großer Bandbreite. Das heißt, eine möglichst große Anzahl an Ritzeln (11-fach) und 32 Zähne beim größten Ritzel sollten es mindestens sein, besser mehr.
Tubless statt Hochdruck
Umrüstsets bieten alles Notwendige, um sich den Schlauch im Reifen zu ersparen. Viele Felgen sind heute für die Umrüstung auf schlauchlos vorbereitet und machen den Wechsel einfach. Der Vorteil: mehr Pannensicherheit bei weniger Luftdruck und Rollwiderstand. Für einen Wechsel von Schlauch zu schlauchlos benötigst du neben einer passenden Felge und einem Tubeless-ready-Reifen ein Tubeless-Kit mit Dichtmilch, Messbecher, Felgenband und Ventil.
Komfort für Hände & Hintern
Eine Extra-Portion Komfort für Schotterwege & Co. bietet der Wechsel des Lenkerbands oder Tausch des Rennsattels gegen ein passenderes Modell.